Das Blatt

Endlich war es soweit. Seit langem hat er sich darauf vorbereitet, alles gegeben. Und nun, ist er da, der richtige Moment. Bei aller Aufregung im Innern und aller Freude auf das Kommende, scheint die Welt davon nichts zu bemerken. Die Wolken ziehen still am Himmel, sie sind heute sehr träge und der Wind, der treibt sein Un-Wesen grad woanders. Die Sonne kitzelt mit den ersten Strahlen diesen neuen Tag.

 

Ich sitze in den Ästen des Baumes, schaue allem in Stille zu und plötzlich ist es wirklich soweit, er lässt es los: das nächste Blatt.

 

Sanft schwebt es rechts an meinem Ohr vorbei und lässt sich von einer kleinen Brise mit Schwung nach vorn treiben. Mit Staunen verfolge ich sein Fallen und wundere mich doch sehr, denn es ist passiert, still und fast unbemerkt. (Sonntag, 14.10.2012, zwischen 8 und 9 Uhr)

Begegnungen am Fluss

Ich laufe durch ein Meer von bunten Ahornblättern und es erscheint mir wie ein Volk, das sich hingibt seinem Ende. Still und wissend fügt es sich, denn seine Zeit ist gekommen, die Zeit zu gehen.  

Ich spaziere weiter und bemerke auf der anderen Flussseite ein Liebespaar.

 

Entgegen meiner Laufrichtung fließt leise ein Frachter über das Wasser, in aller Ruhe, mit Beständigkeit. Nur wenige Schritte später schaue ich nochmals zu ihm rüber und erblicke seinen Namen: Carpe diem.

 

Kann ein warmer Sonnenstrahl schöner sein? Mit viel Wärme im Herzen gehe ich weiter.

Das Liebespaar, das ich vorhin schon auf der anderen Flusseite bemerkte, ist nun auf gleicher Höhe mit mir. Ich kann beide deutlich erkennen, er möchte sie am liebsten auffressen und möchte selbst aufgefressen werden, so stürmisch zeigen sich die Küsse der beiden. Neue Liebe im Herbst, wie wundervoll!

 

Ich quere den Fluss auf seiner letzten Brücke und merke jetzt erst, wie stark der Wind wirklich ist, er schlägt mir förmlich ins Gesicht. Eiskalt, an diesem goldenen Herbstag.

Nun traue ich meinen Augen kaum, denn das Liebespaar ist plötzlich unmittelbar vor mir. Sehr weit sind die beiden ja nicht gekommen.

 

Sie haben es nicht eilig, genießen es, sich zu fühlen und zu spüren, suchen immer mehr Kontakt, soweit dies in aller Öffentlichkeit noch geht … eine neue, heftige Umarmung, denn die letzte ist schon viel zu lange her, noch ein fordernder Kuss, der, der alles will und – mehr. Auf diese Weise torkeln beide vor mir her, fast heimlich verlangsame ich meinen Schritt, ich genieße diesen Anblick des Begehrens und der Liebe. Schritt um Schritt komme ich ihnen näher. Ich spüre die starken Gefühle der beiden immer mehr, sie sind fast wie ein Rausch. Wieder und wieder blicke ich verstohlen auf diese Szene. Sie ist köstlich. Sie berührt mein Herz. ... und dann ist es soweit: Ich bin mit ihnen auf gleicher Höhe. In Gedanken verabschiede ich mich und gehe mit einem Lächeln an ihnen vorbei ... weiter führt mein Weg.

(06.11.2011)